Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst.
Seit Putins Einmarsch in die Ukraine ist wieder einmal jegliche Rationalität aus dem politischen und medialen Diskurs verbannt. Es regieren Moralismus und Schwarz-Weiss Denken. Eigentlich wie bei allen Themen, sei es Corona oder Klima. Aber im Umgang mit einer Atommacht ist moralbesoffenes Gutmenschentum noch ein wenig gefährlicher als sonst.
Nur für die Politiker und Medien des Westens (NATO/EU) ist alles klar. Putin ist ein größenwahnsinniger Irrer, ein unberechenbarer Kriegsverbrecher, körperlich und geistig am Ende, der Russland für imperiale Phantastereien ins Verderben stürzt. Er geht mit maßloser militärischer Gewalt gegen Zivilisten vor und scheut vor keiner Gräueltat zurück.
Die unschuldige Ukraine hingegen ist ein Ort der Lichts. Hier werden unsere Demokratie, unsere Werte heldenhaft verteidigt von einem Führer, den nur die Vorsehung zu dieser dunklen Stunde gesandt haben kann.
Ein militärischer Sieg Russlands muss mit allen Mitteln verhindert werden. Mit! Allen! Mitteln!
Für mich sieht das leider nach dem Hurrapatriotismus und der Begeisterung aus, mit dem die Völker Europas in den ersten Weltkrieg gestürmt sind. Sie wussten nicht, was sie erwartet.
Wenn der ukrainische Präsident Selenskij seinen Willen bekommt und die NATO oder die EU in den Konflikt ziehen kann, werden auch wir nicht gewusst haben, worauf wir uns einlassen. Einen totalen Krieg mit einer Atomweltmacht möchte ich jedenfalls vermeiden, nennt mich feig.
Darum würde ich gern die Propaganda hinterfragen, die uns täglich auf allen Kanälen präsentiert wird. Propaganda, so heißt die Verbreitung von Information in Kriegszeiten. Weder die Ukraine noch Russland, weder unsere Medien noch die verbotenen russischen, berichten neutral und ohne ein Ziel damit zu verfolgen.
Den Krieg mit der Ukraine haben alle handelnden Akteure seit Jahren kommen sehen. Jede Partei ist sehenden Auges in diesen Krieg gelaufen, weil sie dachte, damit ihre Interessen durchsetzen zu können. Eine andere banale Wahrheit. Staaten haben Interessen, keine Moral.
Wer das Handeln anderer Mächte betrachtet, wird drauf kommen, dass Moral und Recht nie ein Maßstab für deren Agieren waren. Nie für die Beurteilung dieses Handelns durch Dritte.
Die USA und England haben 1953 den demokratisch gewählten iranischen Premier Mohammad Mossaddegh stürzen lassen (Operation Ajax, Operation Boot). Dessen Sünde: er hatte gegen die Interessen der Anglo-Iranischen Oil Company verstoßen. Die folgende Herrschaft von Schah Rezah Pahlewi führte direkt in die Iranische Revolution von 1979 und brachte mit Ayatollah Khomeini den Islamismus an die Macht. Im Iran-Irak Krieg, den Saddam Hussein 1980 begonnen hatte, standen die USA (und übrigens auch die Sowjetunion) auf Seiten des angreifenden Irak. Gegen diesen Saddam Hussein, den sie zuerst unterstützt hatten, führten die USA später zwei Kriege. Den Zweiten Irakkrieg 2003 begründeten die USA mit der Produktion von Massenvernichtungswaffen durch den Irak und den möglichen Angriff auf die USA. Dies wurde unter anderem mit Satellitenbildern belegt. Der offizielle Name für die Angriffsstrategie: Schrecken und Furcht (shock and awe). Der Einsatz massivster Gewalt (vorzugsweise als Luftschlag) um den Gegner zu demoralisieren. Das forderte allein im Jahr 2003 laut dem Irak Body Count Project 12.133 zivile Opfer. Der Irak ist seitdem nicht zur Ruhe gekommen, die Zahl der zivilen Opfer wird auf 208.000 (IBCP) bis 1.033.000 (ORB survey) geschätzt. Die Kriegsbegründung erwies sich als frei erfunden, die Satellitenbilder waren gefälscht.
Mir sind keine Sanktionen gegen die USA oder deren Verbündete bekannt.
Saudi-Arabien führt seit 2015 eine „Militärintervention“ im Jemen zur Unterstützung des durch die Huthi-Bewegung gestürzten Präsidenten Abdrabbuh Mansur (auch hier gibts eine lange Vorgeschichte). Die Huthis nennen sich selbst Ansar Allah und sind mit dem Saudi-Islamismus konkurrierende Islamisten. Human Rights Watch und Amnesty International beschuldigen Saudi-Arabien mehrerer Kriegsverbrechen, eine UN Schätzung geht bis 2021 von 259.000 zivilen Opfern in Folge des Konfliktes aus, 70% davon Kinder.
Mir sind keine Sanktionen gegen Saudi-Arabien oder dessen Verbündete bekannt. Im Gegenteil, wir hofieren die Scheichs, um moralisch böses Russengas durch moralisch gutes arabisches Gas zu ersetzen.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat bis zum 03. April 2022 laut dem UN Hochkommissariat für Menschenrechte 1417 zivile Todesopfer gefordert. Auch wenn sicher nicht alle Fakten bekannt sind, steht dies meines Erachtens nach in einem Widerspruch zum totalen Krieg, den Putin gegen die ukrainische Bevölkerung führen soll. Ebenso die russische Strategie. Wer die Ukraine ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung vernichten will, schickt nicht seine Soldaten in einen verlustreichen Straßenkampf sondern bombardiert Kiew aus der Luft und pflanzt dann seine Fahne auf die Ruinen.
Ich spreche keiner Armee der Welt die Fähigkeit ab, Kriegsverbrechen zu begehen. Mir fallen sogar wenige Konflikte ein, in denen keine Gräueltaten begangen wurden. Teils von Menschen, die vor dem Krieg keine Monster waren. Aber diese Monster gibts es auf allen Seiten. Was den Russen die tschetschenischen Spezialeinheiten des Islamisten Ramsan Kadyrow sind den Ukrainern die Nazifanatiker des Azov Regiments. Und zum Umgang mit Menschen, die mit den Russen zusammenarbeiten hat sich Präsident Selenskij mehrmals klar geäußert. So sagte er am 13. März 2022 in einer Videobotschaft „Kollaborateure und Unterstützer Russlands … unterschreiben damit ihr eigenes Urteil“. „Das Urteil lautet, mehr als 12.000 (getöteten) Besatzern zu folgen…“ - ein Todesurteil. Wenn dann eine pro ukrainische Nachrichtenseite wie LB.ua am 02. April meldet, laut der ukrainischen Nationalpolizei hätten Spezialeinheiten mit einer Säuberungsaktion („clearing operiation“) in der Stadt Bucha begonnen, um die Stadt von „Saboteuren und Kollaborateuren“ zu säubern, dann wüsste ich gerne, was mit den „Saboteuren und Kollaborateuren“ passiert ist. Ausweisung nach Russland, Besserungslager oder Schuss in den Hinterkopf? Weder von Russland noch von der Ukraine sind zu Kriegsverbrechen ehrliche Antworten zu erwarten.
Was in diesem „totalen Krieg“ Russlands gegen die Ukraine auch interessant ist, sind die weiter laufenden Zahlungen Russlands an die Ukraine für den Gastransit. Selenskij fordert vom Westen (neben schweren Waffen und NATO Unterstützung) einen Boykott russischen Gases. Aber die Ukraine leitet doppelt soviel russisches Gas nach Europa wie vor Kriegsbeginn. Am 31. März 2022 leitete die Ukraine laut dem Gazprom Sprecher Sergej Kuprianow 109,5 Millionen Kubikmeter Gas durch die ukrainischen Leitungen, das maximal Mögliche. Vor Kriegsbeginn lag die Auslastung oft bei unter 50%. Die Ukraine verdient 2,66 USD pro 1000 Kubikmeter und 100 Kilometer Gastransport und erhält damit jährlich bis zu 2.9 Milliarden USD. Diese Zahlungen laufen weiter. Der Gastransport läuft weiter.
Eventuell sollten wir den Einmarsch Russlands in die Ukraine nicht als einen Kampf des absolut Guten gegen das absolut Böse lesen. Sondern eher als einen Konflikt der Grautöne. Einen Konflikt oligarchischer Kleptokratie gegen Kleptokratie des Oberoligarchen. Die Ukraine lag im Korruptionsindex von Transparency International 2021 auf Platz 122 von 180 Ländern. Hinter Kolumbien und Kasachstan. Und hinter Ungarn, das unter dem Gottseibeiuns der woken EU Bürokratie, Viktor Orban, auf Platz 73 liegt.
Die Ukraine wird geführt von einem Präsidenten, der seine Popularität im Fernsehsender des ukrainischen Oligarchen Igor Kolomojski erwarb. Dessen Wahlkampf von Igor Kolomojski finanziert wurde, der auch das Azov Regiment finanzierte. Neben anderen Freiwilligenregimentern. Der vor der Zwangsverstaatlichung seiner „PrivatBank“ wegen Milliardenbetrugs an Selenskij´s „Kwartal95“ steuerfreundlich 41 Millionen USD überwies, wie in den Panama Papers nachzulesen war. Dieser Oligarch wird nicht nur seit 2014 von Moskau per Haftbefehl wegen – unter anderem – organisierten Verbrechens und Mordes gesucht, auch in den USA wird seit 2019 gegen ihn ermittelt, was 2021 zu einem Einreiseverbot führte. Präsident Selenskij machte dann nach seiner Wahl den Anwalt Kolomijski´s, Andri Bogdan, der auch den Wahlkampf geleitet hatte, zu seinem Stabschef.
Über die politische Landschaft der Ukraine könnte ewig weiter geschrieben werden. Die Essenz: Oligarchen halten sich Politiker und setzen diese zur Durchsetzung ihrer Interessen ein. Wenn das nicht reicht, werden Privatarmeen, pardon, „Freiwilligenregimenter“ auf den Weg geschickt. Es geht um Geld, Banken, Öl und Gasförderer, Pipelinebetreiber und andere Industrie. Ein großer Teil dieser Industrie und damit das Interesse der Oligarchen liegen im Osten der Ukraine. In den von Russland inzwischen als „unabhängig“ anerkannten Gebieten, in denen die Menschen russisch sprechen und sich großteils Russland zugehörig fühlen (Anteil der russischen Muttersprachler in Donezk 74,90%, in Luhansk 68,80%. Quelle Wikipedia). Kommen diese Gebiete unter russische Kontrolle, drohen den Oligarchen Verluste. Dann übernimmt die Konkurrenz.
Aber es geht nicht nur um Geld. Es geht auch um Macht und Einflusssphären. Die Maidan Revolution 2013/14, die von den USA und der EU finanziert und befördert wurde, führte zum Sturz des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Peter Scholl-Latour dazu damals im ZDF „ … die Agenten der CIA, als NGOs getarnt, haben in Kiew eine systematische Subversion des bestehenden Regimes betrieben“. Die Bevölkerung wollte weniger Korruption, mehr Demokratie und ein besseres Leben. Was sie bekam, war eine Regierung unter Einbindung rechtsextremer Russenfresser der Swoboda Partei. Und ein hartes Vorgehen gegen die prorussischen Separatisten. So berichtete die BBC am 19. November 2014 von über 4.000 Toten in der Ostukraine. Weite Teile der Bevölkerung hatten kein Wasser, weil Wasserwerke beschossen worden waren. Präsident Petro Poroschenko unterschrieb ein Dekret, das jegliche staatliche Unterstützung für die Bürger in Donezk und Luhansk unterband. Keine Pensionszahlungen, keine Geld für Schulen oder Krankenhäuser. Die Politiker von NATO und EU sahen in diesem Vorgehen keinen Verstoß gegen ihre Werte. Obwohl die Trennung von Tschechei und Slowakei vorgemacht hatte, wie sich zwei Bevölkerungsgruppen eines Landes friedlich trennen können.
Ein weiterer allen Teilnehmern bekannter Kriegsgrund war die NATO Osterweiterung. Als Gegenleistung für die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Wiedervereinigung sicherten der deutsche Kanzler Kohl und der amerikanische Außenminister Baker dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow zu, die NATO werde sich nicht über das Gebiet des ehemaligen Westdeutschland hinaus erweitern. Wie wir alle wissen, hat die NATO sich erweitert. Man kann natürlich auf dem moralisch korrekten Standpunkt stehen, jedem Land stehe es zu, seine Bündnisse frei zu wählen. Nur, so funktioniert Großmachtpolitik nicht. Im realen Leben hat die USA der Sowjetunion mit einem Atomkrieg gedroht, sollten Raketen auf Kuba stationiert werden. Oder Chiles Salvador Allende weg geputscht, um Augusto Pinochet zu installieren. Großmächte denken in Einflusssphären. Jeder wusste, Russland kann es unmöglich akzeptieren, wenn die NATO auf ukrainisches Gebiet vordringen will. Als Nachbar einer Großmacht können sie nicht einfach beschließen, dem Militärbündnis der Konkurrenz beizutreten. Moralisch nicht perfekt, aber so ist die Welt. Und dennoch unterhält die NATO seit 1997 Beziehungen zur Ukraine. Schon 2005 sollte ein Aktionsplan mit dem Ziel der Mitgliedschaft der Ukraine abgeschlossen werden. Was dann unter anderem die russische Schwarzmeerflotte, die auf der Krim stationiert war, betroffen hätte. Am 09. März 2018 hat die NATO die Ukraine in den Status eines Beitrittskandidaten („aspirant country“) gehoben und die USA dachten über Waffen für die Ukraine nach. Wie hätten die USA reagiert, wenn die Sowjets in Mexiko eine kommunistische Regierung an die Macht gebracht und über eine Lieferung sowjetischer Waffen nachgedacht hätten?
Das einzig rational denkbare Ende für den Ukraine Krieg ist ein Anschluss von Krim, Donezk und Luhansk an Russland und eine immerwährende Neutralität der Westukraine nach Schweizer Muster. Die Alternativen sind Afghanisierung (ewiger Bürgerkrieg) oder dritter Weltkrieg. Der ukrainischen Bevölkerung ist mit weiteren Waffenlieferungen und einem Stellvertreterkrieg auf ihrem Territorium nicht gedient. Ich sehe keinen Sinn darin, für die NATO Osterweiterung und unsere ach so überlegene Moral noch mehr Menschen sterben zu lassen.
Im Übrigen konzentriert sich die NATO auf den falschen Gegner. Nicht Russland erhebt den Anspruch, die kommende Führungsmacht des Planeten zu sein, sondern China.
Abschließend zum Ausstieg aus dem „Russengas“, der von moralisch korrekten Politikern gefordert wird. Laut Informationsblatt des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2019 werden 25% des europäischen Energieverbrauchs durch Erdgas gedeckt. 47% davon kommen aus Russland. Die russischen Pipelines haben eine Kapazität von 175 Milliarden Kubikmetern pro Jahr. Die Tankschiffe, die diese Mengen durch Flüssiggas (LNG) aus den USA oder arabischen Ländern ersetzen sollen, haben eine Kapazität von 150.000 Kubikmetern (1 m³ LNG = 600 m³ Gas bei 1 bar). Wir haben weltweit weder die Tankschiffe, noch die Verflüssigungskapazitäten und in der EU nicht ausreichend Anlandeterminals um die russischen Pipelines durch LNG Lieferungen zu ersetzen. Ohne Gas hätten wir dann in Europa endlich die von den Grünen herbeigesehnte „angebotsorientierte Energieversorgung“, also afrikanische Zustände. Die Politik sollte so ehrlich sein, das den Menschen zu sagen.
Wenn Sie weiter lesen wollen, ein Vorschlag zu einem weiteren kontroversiellen Thema:
https://chrisveber.blogspot.com/2020/09/linksgruntragt-mitschuld-moria.html
Wenn Ihnen mein Text gefallen hat und Sie unabhängigen Journalismus unterstützen wollen:
Chapeau hervorragender Artikel, super zusammengefasst, augenscheinlich erklärt! Bin völlig ihrer Meinung und fassungslos wie unsere westliche Berichterstattung uns in Richtung Krieg treibt... Einziger Kritikpunkt: Wikipedia als Quelle ��
AntwortenLöschen